Der alte Mann und das Haus
Heute könnten wir eigentlich bis 8:30 Uhr geschlafen. Ich werde bereits um 5 Uhr wach und schreibe die ausstehenden Reiseberichte. Danach geht es zu Fuß zum Frühstück und mit Mischa zum ersten Ort in der Sperrzone. Wir wollen heute die restlichen noch in der Sperrzone wohnenden Einheimischen besuchen. Nach ein paar Kilometern Fahrt, kommen wir zu einem Check Posten und werden von einem Mopsgesicht mit Kalaschnikow überprüft. Wir dürfen passieren und müssen den Schranken selbst öffnen. Über eine holprige Straße geht es an alten verfallenen Häusern vorbei zu Ivan. Ivan ist heute 81 Jahre alt und zog bereits zwei Jahre nach der Katastrophe, mit seiner Frau, zurück in sein Dorf. Zum damaligen Zeitpunkt kamen 150 Einwohner in das Dorf zurück, von denen leben heute noch genau drei im Ort. Die anderen sind entweder wegezogen oder bereits gestorben. Bei seinem Haus angekommen, redet Mischa kurz mit ihm und fragt, ob wir eintreten dürften. Für den Alten scheint es eine willkommene Abwechslung zu sein. Er lässt uns hinein, zeigt uns vor Stolz seine Hühner und setzt sich, gekrümmt, auf eine Bank. Es stellt sich heraus, dass er starke Rückenschmerzen hat und seine Schmerzmittel nicht helfen. Da Petra dieses Leid auch oft mit Ivan teilt, hatte sie recht gute Schmerzmittel mit. Davon gab sie dem Alten einige Tabletten ab. Ich hoffe, er hat nicht alle auf einmal eingeworfen. Es wäre sicher ein cooler letzter Trip geworden. Vor dem Haus steht ein alter kleiner Ofen aus Metall vor dem ich Ivan unbedingt fotografieren will. Auch sein Schuppen oder seine Küche schauen toll aus. Nachdem ich ihn in zwei Räumen fotografiert habe, taut er und zeigt uns freiwillig nach und nach das ganze Haus. In seinem Schlafzimmer stehen viele Fotos seiner Familie und vor allem Fotos von ihm und seiner Frau. Einer seiner Söhne lebt in Kiew und arbeitet mit einer deutschen Firma zusammen. Beide sieht er recht selten. Seine Frau ist leider vor zwei Jahren gestorben. Wie sehr er sie gemocht hat, zeigt eines der letzten Fotos, dass er von ihr hat. Er setzt sich auf sein Bett und hält es in der Hand. An der Wand hängen Fotos seiner Eltern – rundherum sieht es irgendwie schrullig aus. Sein Blick geht traurig aus dem Raum ins Freie. Ihn von hier weg zu holen wäre sein sicherer Tod.
Wir fahren weiter oder besser gesagt zurück zum Check Posten und von dort zu in der letzten noch stehenden Kirche in der Sperrzone. Unterwegs schauen wir uns ein paar Häuser an und stampfen durch das hohe Gras. Wahrscheinlich habe ich am Abend wieder unzählige Zecken oder werde von einer Grasschlange gebissen. Diesmal ist die Straße noch schlechter und Mischa sagt uns, dass wir rund eineinhalb Stunden fahren werden. Die Fahrt geht durch Föhren und Birkenwälder, an alten Häusern vorbei. Unzählige Male werden wir von Einheimischen, die vor der Katastrophe hier gewohnt haben, überholt, die jeden 9. Mai in die Sperrzone zurück dürfen, um ihre Häuser zu besuchen. Alle fahren zweimal so schnell wie Mischa. Langsam aber sicher könnte ich ihn erwürgen so schleicht er durch die Gegend. Er trägt seinen VW-Bus förmlich über jedes Schlagloch. Ich werde ihm einen Aufkleber kaufen auf dem steht: „Wer sein Auto liebt, der schiebt.“ Ich glaube, wir wären gleich schnell gewesen, wenn wir das Auto durch die Gegend geschoben hätten. Auf dem Weg zur Kirche kamen wir an einem Friedhof und an einer alten verfallenen Halle für Landmaschinen vorbei. Das müssen wir uns unbedingt auf dem Rückweg ansehen. Die Kirche ist einfach der Wahnsinn. Vor knapp 200 Jahren errichtet, steht sie immer noch gut erhalten mitten im Wald. Sie scheint des Öfteren besucht zu werden, denn der Boden ist absolut sauber. Auch hier kommen immer wieder Einheimische, bekreuzigen sich unzählige Male und treten in das Gotteshaus ein. Wir haben hier Lästerliches vor, also muss Mischa vor der Türe Wache stehen und uns immer sagen, wenn jemand kommt. Hannes wuchtet sich wieder in seinen hautengen, schwarzen Ganzkörperanzug und bekommt ein Kelch-ähnliches Holzteil in die Hand. Er steht auf einem Podest hinter einem kleinen Gitter und vor ihm stellen wir ein kleines Tischchen mit Ikonen. Wir haben das kurzerhand von einem Podest gehoben. Petra und Thomas knien wie ein Brautpaar mit zwei Smileys am Kopf vor ihm. Petra hat den Strauß mit Maiglöckchen, den wir zuvor im Wald gepflückt haben, in der Hand. Thomas hält Petras Hand und wir haben sie mit einem Zierband, das wir auch in der Kirche gefunden haben, umwickelt. Wir stellen so eine Hochzeit nach. Nur, dass Flanello eine Rabenmaske auf hat. Einmal müssen wir abbrechen, da wieder eine Horde sich bekreuzigender Einheimische kommt. Wir haben schon Übung und machen das Foto noch einmal. Ohne dem Blitz von Lars wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen. Habe ich schon gesagt dass ich Jinbei hasse?
Bei der Kirche werden wir wieder von Millionen von Moskitos gefressen. Nun geht es zurück zu den Landmaschinen. Im Auto müssen aber zuerst die Gelsen loswerden. Wir sehen einige Mähdrescher und eine alte Getreidemühle. Weiter holpern wir durch unzählige Schlaglöcher zurück in Richtung Check Posten. Unterwegs bleiben wir bei einem Friedhof stehen und ich mache noch ein paar Bilder. Kurz darauf geht es zu ein paar alten Häusern, die wir uns auch näher ansehen. In einem der Häuser stehen noch ein alter Herd und zwei Betten. Hannes zieht sich wieder den schwarzen Anzug und die Rabenmaske an und wir machen einige coole Bilder in dem Haus. Kurz vor der Hauptstraße sehen wir noch das Wäldchen mit den toten Birken. Durch einen Föhrenwald laufen wir zu den Birken und machen Bilder mit Hannes und dem roten Smiley. Die Kontraste sind einfach irre aber leider auch die Gelsen. Unsere Körper sind fast schwarz von diesen Sauviechern.
Da es sich zeitlich nicht mehr ausgehen würde, einen anderen Ort anzusehen, beschließen wir wieder zurück nach Tschernobyl zu fahren. Dort angekommen halten wir bei der Lenin Statue und ich will Hannes mit dem Smiley auf dem Podest fotografieren. Mischa lässt uns nicht auf das Podest klettern, da die Polizeistation genau einmal ums Eck liegt. Es fahren im Minutentakt irgendwelche dämlichen Polizeiautos durch die Gegend. So kann ich nur ein Foto machen, bei dem ich den Smiley zwischen die Beine von Lenin lege. Das wird ein super Colorkey. Abendessen, Bier und Würste für die Hunde kaufen und uns gemeinsam in den Garten des Hotels setzen. Der Tag geht die Gelsen bleiben.